Der nachfolgende Mythos kommt (einschließlich der pikanten Details) aus Japan. Ich habe sie schon oft auf Kräuterwanderungen erzählt. Ihre wahre Bedeutung ist mir aber erst angesichts des aktuellen Wetters so richtig bewusst geworden. Und so habe ich sie heute neu gefasst und erzählt.
Mit feuerrotem zornglühenden Gesicht rennt Amaterasu, die Sonnengöttin, zu ihrem Vater, dem Himmelsgott.
Völlig außer Atem, schreit sie schon von der Türschwelle:
„Vater, schaff mir Genugtuung! Dieses Mal darf mein ungeratener Bruder mir so nicht davonkommen – er hat mit seinen Soldaten meinen Tempel entweiht, sie haben in meine Gärten gekackt, meine Priesterinnen geschändet, die Schätze geraubt!
Das darfst Du ihm nicht durchgehen lassen!“
Der Himmelsvater blickt milde und sehr weit entfernt auf seine wütende Tochter herab, und schüttelt bedauernd den Kopf. „Meine Liebe, Du weißt doch, dass ich mich nicht einmischen darf, wenn Susanowo, Gott des Meeres und der Stürme, sich austobt. Das kosmische Gleichgewicht könnte gestört werden…“
„Blablabla – immer bevorzugst Du meinen Bruder, aber diesmal kommst Du mir nicht davon. Du wirst schon sehen, was mit dem kosmischen Gleichgewicht passiert, wenn ich nicht mehr mitspiele!“ sprach Amaterasu und stob auf und davon.
Erst merkte man nichts. Sturm und Regen hatten auch die Tage zuvor schon heftig getobt. Die Menschen hatten sich schon fast daran gewöhnt, immer ein Handtuch und ein trockenes 2. Kleidungsstück mit sich herum zu tragen, so tobte sich Susanowo in diesem Winter aus.
Aber eigentlich wurde jetzt doch Frühling, und die Tage sollten wieder länger werden.
Davon merkte man allerdings nichts. Alles blieb sonderbar grau und trübe, und immer die Regenbomben von Susanowo, die dazwischen pflatschten. Die Pflanzen wuchsen, aber es wurde und wurde einfach nicht wärmer, und die Menschen fröstelten.
So blieb es auch, als die Sommerzeit herankam, und so fingen sie an, sich Sorgen zu machen. „Wo ist unsere Mutter, die Sonne?“, fiel ihnen plötzlich auf. „Schon so lange strahlt sie nicht mehr fröhlich vom Himmel. Verbirgt sie sich hinter den Vulkanauswürfen des vorletzten Jahres?“
Ein anderer vermutete, dass Amaterasu sich in die Wolken geflüchtet habe, um das Panzergrollen nicht mehr hören zu müssen, das ihr vom ganzen Erdball entgegenschallt.
„Oder treibt sie eventuell mit einem Eisbären auf einer Eisscholle, immer kurz vor dem Abrutschen ins eiskalte Meer, dem Gefilde ihres Bruders?“
Die Göttin blieb verschwunden und niemand wusste, wo sie war.
Und langsam wurde es den Menschen so kalt und nass, dass es ihnen nicht mehr reichte, in jedem Gespräch nur übers Wetter zu schimpfen. Sie wollten endlich Taten sehen und wandten sich an die Götter und die Regierung. Laut tönte ihr Gejammer dem Himmelsgott in den Ohren und drang sogar bis zum Kaiser. Beide schüttelten nur unwillig den Kopf und meinten, sie dürften sich nicht einmischen, und das kosmische Gleichgewicht… Da braute sich ein anderer Sturm
zusammen als der von Susanowo.
Eine Göttin aber, die einstige Amme von Amaterasu, dachte sich: „Auch wenn mein Milchkind die Sonne ist und ihr deshalb kaum etwas zugestoßen sein kann, will ich mich doch auf die Suche nach ihr machen, denn ich entbehre ihren hellen fröhlichen Glanz und die Menschen werden nur zusätzliches Unheil stiften, wenn wir sie weiterhin im Regen stehen lassen“.
Also machte sich Uzume auf die Suche nach Amaterasu. Alles an ihr hing, denn sie war schon sehr alt. Und alles an ihr troff, denn es regnete immerfort weiter. Ungebrochen war das Funkeln in ihren Augen und die Liebe in ihrem Herzen, und so ging sie. Und ging.
Sie schaute hinter den Bäumen und den Wasserfällen nach, in den Fuchslöchern, fragte die Adler, die Delphine, die Pferde und den Phönix, keiner hatte Amaterasu gesehen.
Schließlich fragte sie eine Schabe, denn diese sind uralt und haben schon so viel gesehen. „Warum soll ich Dir helfen? Mir macht das Wasser nichts aus und niemand kümmert sich jemals um mich, außer um mich zu zertreten“. Uzume verbeugte sich, nickte, und ging.
Sie traf auf einen Fluss, denn dieser kommt viel herum. „Warum soll ich Dir helfen? Schau wie groß und mächtig mich der Regen macht. Er schwemmt all den Unrat fort, den die Menschen in mich werfen und ich komme endlich mal wieder aus meinem Bett heraus“.
Uzume verbeugte sich, nickte, und ging.
Sie fragte eine Pusteblume, und diese erinnerte sich. Eines ihrer Kinder, das mit dem Regen getanzt und weit herum gekommen war, hatte ihr eine Postkarte geschickt.
Sie kramte sie heraus und zeigte sie Uzume. „Siehst Du diesen Berg und den Glanz, der auf ihm liegt? Versuch es dort.“ Uzume verbeugte sich, nickte, und ging.
Ihr fiel ein, dass Amaterasu als Kind tatsächlich immer gern zwischen den Bergwipfeln Verstecken gespielt hatte. Also wanderte sie zum Fuß des großen Berges und dort kuschelte sie sich erst einmal in eine große Astgabel und schlief. Susanowo, der überall ist, versuchte immer wieder, sie mit seinen Sturmfingern zu pieksen und herunterzuschubsen, und natürlich regnete es fortwährend. Aber Uzume, die auch seine Amme gewesen war, kannte alle seine Tricks, und da er sie liebte, ließ er sie irgendwann in Ruhe.
Als sie aufwachte, war es Morgen, aber immer noch so dunkel wie am Abend. Und es regnete und war kalt. „Kind, Sonne, wenn ich Dich nicht bald finde, dann wachsen mir noch Pilze aus den Ohren, ich bin mir sicher, das willst Du nicht“. Natürlich erhielt sie keine Antwort. Leise seufzend machte sie sich auf den Weg und suchte in den Bergen nach Amaterasu.
Sie lief den ganzen Tag, sie suchte im Tal, in der Schlucht, in den Wipfeln, hinter dem Berg, und unter dem Berg, und fand – nichts. Weit und breit keine Sonne, nur Regen und Sturm.
Endlich fiel ihr ein, dass im Berg die alte Drachenmutter hauste. „Liebste Ohme, hast Du einen Tee für mich? Ich suche schon den ganzen Tag nach der Sonne und draußen ist es sehr ungemütlich“. Die Ohme ließ sie in ihre Höhle und drückte ihr schweigend eine Tasse Tee in die Hand. Mit einem Wink ihres Schweifs lud sie sie ein, es sich irgendwo gemütlich zu machen.
Drachenhöhlen sind nicht besonders aufgeräumt, man muss aufpassen, dass man den Drachen nicht verärgert, denn das könnte dumm ausgehen, und der Geruch würde Dir vermutlich auch nicht angenehm in der Nase sein. Nach dem Regen und dem Sturm draußen und dem ständig anschwellenden Menschengejammer, das Uzume ins Ohr drang, war der Drachenhort für sie dennoch der erholsamste und friedlichste Ort, den sie sich vorstellen konnte.
Ihr wisst ja, dass die Drachen das Privileg haben, in ihrem Bauch einen unerschöpflichen Vorrat an Sonnenstrahlen zu hüten, und so strahlte die Drachenmutter von innen heraus.
Uzume wärmte sich an ihrem Glanz und vermisste Amaterasu gleich noch mehr. Sie hatte schon fast vergessen, wie Sonne sich auf der Haut anfühlt.
„Oh, Ohme, wie gut das tut. Ich danke Dir. Kannst Du mir bitte helfen, Amaterasu zu finden?“, fragte sie. „Du trägst die Sonne in Dir, kannst Du nicht spüren, wo sie ist?“
Die Drachenmutter grollte, und Uzume wich ein wenig zurück. „Weiß der Himmel, die Menschen haben meinem Geschlecht nichts Gutes getan. Warum sollte ich ihnen helfen?“
„Ach, Ohme, ich weiß, wo ich auch hinkomme, jeder sagt mir dasselbe. Aber ist es wirklich schon soweit, dass wir die bekannte Welt untergehen lassen sollen? Wer erzählt dann an den Feuern Geschichten über uns, wer fertigt die wunderbaren Schätze, die Deine Familie so liebt? Und abgesehen davon, was wird aus Amaterasu? Was wird aus der Sonne, wenn sie nicht scheint, und niemanden hat, der sich an ihrem Glanz freut und sich an ihr wärmt? Wo auch immer sie ist, es muss einsam um sie sein. Bitte hilf mir, sie zu finden.“
Die Drachenmutter hatte Mitgefühl mit der alten Amme und zeigte mit ihrer Schwanzspitze auf einen der gegenüberliegenden Berge. „Sieh dort drüben nach, dort habe ich sie zum letzten Mal gesehen“. Uzume trank ihren Tee aus, verbeugte sich, nickte, und ging.
Draußen war es noch kälter geworden, es stürmte und regnete immer noch.
Uzume wickelte sich fester in ihren Umhang und lief zum Berg gegenüber. Eine große Felsscheibe, die nicht so aussah, als hätte sie schon immer dort gelehnt, stand vor einer Bergwand und – Uzume traute ihren Augen kaum – am Fuß der Scheibe schlich sich ein schmaler heller Schein aus dem Berg. „Amaterasu“, rief sie aufgeregt, „Amaterasu, endlich, Göttin, Sonne, habe ich Dich gefunden. Bitte komm heraus“. „Geh weg, was suchst Du mich?“ „Amaterasu, die Menschen vermissen Dich, wir vermissen Dich. Susanowo ertränkt uns noch mit seinem Regen. Hörst Du nicht das Klagen der Menschen?“ „Ach, die Menschen und ihr Gejammer,“ kam es ärgerlich aus dem Berg. „Mein Vater und das kosmische Gleichgewicht. Mein Bruder Susanowo. Wenn Du wüsstest, wie mich das alles langweilt. Solange ich da bin, nehmen mich alle als selbstverständlich. Und jetzt fällt ihnen nichts klügeres ein, als sich darüber zu beschweren, dass ich fehle? Tut mir leid, aber damit lockst Du noch nicht einmal einen alten Schuh hinterm Ofen hervor, geschweige denn mich aus meinem Refugium. Wenn Du sehen könntest, wie gemütlich ich es mir hier eingerichtet habe, es ist einfach wunderbar. Dank des Krachs meines Bruders höre ich auch nicht viel vom Geheule der Menschen. Geh einfach weg und stör mich nicht.“
Uzume, die auch Amaterasus Tricks genau kannte, kümmerte sich nicht um sie. Sie holte eine große Trommel aus ihrem Umhang, setzte sich unter einen Felsüberhang, wo es einigermaßen trocken und geschützt war und trommelte. Genau mit dem Herzschlag der Erde trommelte sie, und so wurde der Trommelschlag immer lauter und durchdringender und er war überall bei den Göttern und Menschen zu hören. „Kommt und seht,“ rief die Trommel, „kommt und seht“.
Götter und Menschen machten sich auf dem Weg, und da es natürlich immer noch regnete und stürmte, waren sie nicht besonders guter Laune, als sie ankamen.
„Uzume, was rufst Du uns an diesen entlegenen Ort, wo wir den Unbillen Susanowos noch mehr ausgeliefert sind?“, riefen sie, als sie ankamen.
Uzume wies stumm auf den schmalen hellen Lichtstreifen, der immer noch stetig aus dem Berg kroch.
Gemeinsam versuchten Menschen und Götter die Felsscheibe zu verrücken, aber vergeblich. Amaterasu beschimpfte sie und sagte, sie sollten weggehen, sie wolle allein sein.
Wie Menschen so sind, kümmerten sie sich nicht darum, obwohl der Himmelsvater natürlich wieder auf das kosmische Gleichgewicht hinwies.
Die Felsscheibe aber bewegte sich nicht, was auch immer sie versuchten.
Also schlugen die Menschen ein Lager auf um zu beratschlagen, zündeten die Feuer an (Uzume sorgte heimlich dafür, dass Susanowo sie nicht dauern ausblies) und da es ein langer Weg zum Berg gewesen war, aßen sie erstmal etwas, erzählten sich Geschichten und sangen.
Uzume hörte aus dem Berg ein leises Seufzen und lächelte. Die Scheibe aber blieb an ihrem Ort, obwohl immer mal wieder jemand sich daran versuchte, sie mit Manneskraft oder Zauberworten zu verrücken. So ging es in den nächsten Tagen und Nächten. Tagsüber wurde die Scheibe erforscht, gedrückt, gestoßen und bewegte sich nicht. Abends wurde erzählt, über den Regen gejammert und gesungen. Aber außer den dünnen Seufzern, die nur Uzume hörte, kam nichts aus dem Berg.
Es näherte sich der Zeitpunkt, an dem Tag und Nacht gleich lang sind. Von ihm wussten die Menschen noch, obwohl es nun schon so lange nur noch Nacht war, dass sie es auch hätten vergessen können. Uzume sagte, sie wollte ein Fest veranstalten. Genau vor der großen Felsscheibe wurde ein Feuer geschlagen. Dahinter wurde als Symbol für die abwesende Sonne eine große blank polierte Messingscheibe aufgestellt, in der sich das Feuer und der Berg spiegelten. Uzume gebot den Menschen, für heute über den Regen und den Sturm zu schweigen. Susanowo schickte sie weg, um an anderer Stelle Unfug zu treiben, und zu ihrer Überraschung ging er.
Uzume trommelte. Die Menschen tanzten dazu. Die Narren machten ihre Späße und endlich kam es, das wieder einmal reines fröhliches Gelächter zum Himmel stieg, gänzlich ungetrübt von dem sonst so stetigem Gejammere über das Wetter. Uzume spürte eine gewisse Unruhe im Berg und lächelte.
Uzume selbst stieg auf den großen Stein am Feuer. Die Flammen flackerten und sie begann sich zum Trommelklang zu wiegen. Graziös ließ sie ihren Umhang fallen, und Kirchern brach unter den Zuschauern aus. Die alte Göttin strippte. Und da gab es schon etwas zu sehen: Wie sie so nach und nach ihre etwas verblichenen Reize enthüllte, mit runzeligen Hüften wackelte und ihren faltigen Bauch kreisen ließ, das war schon was. Als sie dann auch noch ihre Hängebrüstchen abwechselnd über ihre Schultern warf und an ihren langen, etwas ausgeleierten Schamlippen im Takt des Trommelwirbels zupfte, steigerte sich das Gelächter immer mehr und die Zuschauer wieherten vor Lachen.
Plötzlich erzitterte der Berg, und die Felsscheibe rollte zur Seite. Im Eingang stand Amaterasu. Sie hatte es vor lauter Neugierde nicht mehr ausgehalten, worüber denn da bitte so gelacht werde vor ihrem Berg.
Sie stand genau im Eingang der Höhle, vor sich das Feuer und den Stein mit Uzume und hinter dem Feuer erblickte sie die spiegelnde Scheibe, die ihr gleichen sollte.
Amaterasu sah sich neben Uzume im Spiegel – sie, die junge erblühte strahlende Göttin (die Falten, die sie sich im feuchten ungemütlichen Berg geholt hatte, lächelte der Feuerschein freundlich weg). Sie spiegelte sich neben ihrer alten Amme Uzume, die immer noch tanzte und sich zu den Trommelklängen räkelte, und so sah sie alles.
Schönheit, Gelächter, Jugend, Alter, Tanz, Trommeln, Liebe, Trauer, Hitze und Kälte, Werden und Vergehen, Rückzug und Hingabe.
Uzume reichte ihr die Hand und zog sie auf den Stein und gemeinsam mit den Menschen tanzten sie und tanzten und tanzten und lachten die ganze Nacht hindurch.
So kam die Sonne in die Welt zurück. Und wenn wir aufhören, über den Regen zu jammern und stattdessen die Sonnenstrahlen ehren, wenn sie unsere Haut erwärmen, dann bleibt sie auch da.